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50 Jahre VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“

News 50 Jahre VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“

Der VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“ feiert 2024 sein 50-jähriges Jubiläum.

Öffentlichkeitswirksam machten Teilnehmer:innen mit und ohne Behinderung 1974 in diesem Kurs auf Barrieren im Alltag aufmerksam. Auf einer Podiumsdiskussion am 7. Mai 2024 blickten Zeitzeugen und Aktivist:innen zurück und nach vorn.

Hier finden Sie die im Nachgang versandte Pressemitteilung sowie weiteres Hintergrundmaterial.

 

Pressemitteilung zur "Selbstvertretung damals und heute" am  Dienstag, 7. Mai 2024

Nie wieder Gepäckabteil
Podiumsdiskussion „Selbstvertretung damals und heute“ würdigt 50. Jahrestag des VHS-Kurses „Bewältigung der Umwelt“


ffm. „Eine Fahrkarte nach Hanau, bitte“ – so fing sie an, die Bahnfahrt von Autorin Christa Schlett. Doch statt auf den Main blickte die Rollstuhlfahrerin auf Koffer. Weil sie ins Gepäckabteil musste.

50 Jahre ist diese denkwürdige Bahnfahrt her. 50 Jahre, in denen sich viel getan hat im Kampf um Würde und Selbstbestimmung behinderter Menschen. Weil die sich das Kleinmachen und in die Ecke drängen lassen nicht mehr gefallen ließen. Auch Christa Schlett nicht, die sich im damals neuen VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“ engagierte – und am Dienstag, 7. Mai, im Historischen Museum gemeinsam mit anderen auf den 50. Jahrestag dieses ganz besonderen Kurses zurückblickte.

Im Januar 1974 ging das von Sozialarbeiter Gusti Steiner (saß selbst im Rollstuhl) und dem Journalisten Ernst Klee konzipierte Angebot „Bewältigung der Umwelt“ an den Start. Im Kampf um Selbstbestimmung setzten sie auf öffentlichkeitswirksame Proteste wie Straßenbahnblockaden. Vielen Frankfurter:innen wurden dadurch erstmals bewusst, mit welchen Barrieren behinderte Menschen im Alltag zu kämpfen hatten.

Was hat sich seitdem verändert? Wo wirkt die Kraft und Energie, die aus dieser Bewegung entstand, bis heute nach? Und vor allem: Was bleibt noch zu tun? Über Themenmangel konnten sich die Teilnehmer:innen der Podiumsdiskussion „Selbstvertretung damals und heute“ wahrlich nicht beklagen. Neben Christa Schlett dabei: Georg Gabler (Sozialberater), Hannes Heiler (FBAG Frankfurter Behindertenarbeitsgemeinschaft / Selbst e.V.), Ulrike Holler (Journalistin, Hessischer Rundfunk), Ottmar Miles-Paul (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, Kobinet-Nachrichten), Annedore Smith (Journalistin) und Björn Schneider (Selbstvertreterrat Lebenshilfe). Moderiert wurde die Runde von Katja Lüke.

„Kreative Aktionen des zivilen Ungehorsams“ hätten die Anfangsphase des Kurses geprägt, so Journalistin Annedore Smith. Ein Ziel: die Zentrale der Post auf der Zeil. Die sträubte sich lange gegen eine Rollstuhl-Rampe. Smith: „Die erste Antwort war: Haben Behinderte denn postalische Bedürfnisse?“

Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg erinnerte in ihrem Grußwort an den Slogan „Sprecht mit uns, nicht über uns“, den die Pionier:innen des Behindertenrechtsbewegung geprägt haben: „Sie haben damals das Wort ergriffen. Sie haben die Diskussion an sich gezogen und aktiv deutlich gemacht, wo Ausgrenzung stattfand und woran Teilhabe scheiterte.“ Die Proteste markierten eine Zäsur, ohne die der Fortschritt beim Thema Barrierefreiheit nicht möglich gewesen wäre. Auch in Zukunft gelte: „Ihre Selbstvertretung ist und bleibt wichtig.“

VHS-Direktor Danijel Dejanovic: „Gusti Steiner und Ernst Klee haben sich damals bewusst dafür entschieden, mit ihrem Kurs an die Volkshochschule zu gehen. Es steht mir nicht zu, zu beurteilen, ob die Selbstvertretung behinderter Menschen von der VHS profitiert hat. Was ich jedoch sagen kann: Wir als VHS haben von diesem Kurs profitiert. Er hat uns sensibilisiert für Inklusion. Inklusion ist Teil unserer Identität geworden. Sie hat uns besser gemacht. Sie hat unseren Anspruch, Bildungsinstitution für alle zu sein, mit Leben gefüllt.“

Der Direktor des Historischen Museums, Jan Gerchow, spannte einen Bogen von den frühen Kämpfer:innen für Selbstbestimmung zur Studentenbewegung 1968 – und zur Geschichte des Hauses. So wie die Sichtbeton-Architektur des Neubaus 1972 für das Abschneiden alter Zöpfe gestanden hätte, sei das Thema Inklusion in die Umgestaltung der 2010er Jahre eingeflossen.

In einem waren sich alle einig: Zum inklusiven Frankfurt ist es noch ein weiter Weg. So kritisierte Hannes Heiler (FBAG Frankfurter Behindertenarbeitsgemeinschaft / Selbst e.V.) den langsamen Umbau von Haltestellen: „In dieser Geschwindigkeit dauert es noch 20 Jahre.“

Bildungsdezernentin Sylvia Weber: „Behindertengerecht ist menschengerecht – dieser Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bringt es auf den Punkt. Inklusion ist keine mildtätige Geste, sie ist ein Recht. Genauer gesagt: ein Menschenrecht. Inklusion als Recht zu benennen und es einzufordern war anno 1974 noch eine Provokation. Die Teilnehmenden des VHS-Kurses ‚Bewältigung der Umwelt‘ haben es dennoch getan. Dazu gehörte jede Menge Mut, aber auch der Glaube, dass es sich lohnt für dieses Recht zu kämpfen.“

Weitere Informationen und Hintergründe zum VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“ finden Sie auf der Webseite der VHS Frankfurt unter vhs.frankfurt.de/selbstvertretung.
 

 

Historisch-wissenschaftliche Einordnung


​Dr. Rafael Rössler vom German Historical Institute, Washington D.C. im Gespräch mit Katja Lüke. Das Interview wurde im Vorfeld der Podiumsdiskussion aufgezeichnet und auf dieser gezeigt.

 

 

Hintergrund

Der VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“ (1974 bis ca. 1984)

 

1973

Planung und Konzeption des VHS-Kurses „Bewältigung der Umwelt“ durch Gusti Steiner (Sozialarbeiter, selbst behindert), Ernst Klee (investigativer Journalist) und Wolfram Helmer (VHS Frankfurt). Der Kurs sollte Menschen mit Behinderung selbstbewusster machen, ihnen ein aktiveres, selbstbestimmteres Leben ermöglichen. Zentral war eine neue Sicht auf Barrieren, die nicht mehr als unüberwindbar galten – sondern als veränderbare Umwelt-Faktoren. Mit Öffentlichkeitsarbeit und Demonstrationen sollte ein Schlaglicht auf diese Barrieren geworfen werden.
 


1974

Januar: Beginn des ersten Kurses „Bewältigung der Umwelt“

1. Februar 1974: Die erste größere Aktion. Es geht um das nicht barrierefreie Postamt auf der Zeil. Nach einem Test sprechen Rosemarie Heßler (Rollstuhlfahrerin) und Marlies Nehrstedte (FR-Journalistin) Passanten an und bitten, dass man ihnen in die Post hilft. Anschließend Anruf und Anschreiben an Postdirektion. Erst nach Jahren wird eine Rampe gebaut.

Februar/März 1974: Ähnliche Protestaktionen an den Zugängen zu für behinderte Menschen wichtigen Einrichtungen wie AOK, VdK, Sozialamt; Testeinkäufe in Supermärkten zeigen: Rollstühle passen nicht in die schmalen Durchgänge

18. Mai 1974: Hauptwache: Stand mit Flugblättern und Plakaten, Klebeaktion „Prädikat behindertenfeindlich“ und öffentlichkeitswirksame Blockade der Straßenbahn durch Gusti Steiner

16. November 1974: „Unser Vorschlag zum Wochenende – Fahr mal im Gepäckwagen“ ¬ der Aufruf, unterzeichnet von Wolfram Helmer und Ernst Klee, hat einen ernsten Hintergrund. Bei Fahrten mit der Bahn landen Rollstuhlfahrer immer wieder im Gepäckabteil

Dezember 1974: In der Vorweihnachtszeit nimmt die satirische Aktion „Behinderte zum Fest“ die Reduktion von Menschen bis Behinderung auf die Rolle des Almosenempfängers aufs Korn. „Angeboten“ werden Behinderte als Fotomotiv – um zum Fest das soziale Image aufzupolieren.
 


1978-1980

Jeweils am Buß- und Bettag im November wird der satirische Negativ-Preis „Die goldene Krücke“ verliehen.
 


Nach 1980

Gusti Steiner zieht nach Dortmund, ist dort weiterhin aktiv. Ernst Klee zieht sich als Kursleiter zurück, widmet sich u. a. verstärkt seinen Recherchen zu Euthanasie-Verbrechen. Die Kursleitung des VHS-Kurses übernehmen bisher Teilnehmende, darunter auch Georg Gabler (ehemals CeBeeF Frankfurt am Main)
8. Mai1980: Demonstration gegen das Frankfurter Reiseurteil. Das Landgericht hatte Urlaubsgästen eine Minderung des Reisepreises zugesprochen, weil deren Erholung durch Urlaubsgäste mit Behinderung beeinträchtigt worden sei. Es kommen rund 5000 Menschen – weitaus mehr als erwartet.

Anfang der 1980er Jahre: Theresia Degener nimmt als Jurastudentin am Kurs teil. Sie wird eine der bekanntesten Aktivistin der bundesdeutschen Behindertenbewegung. 1981 war sie maßgeblich an der Durchführung des Krüppeltribunals beteiligt, bei dem Menschenrechtsverletzungen an behinderten Menschen angeprangert wurden. In den Jahren nach 2001 war sie als unabhängige Juristin und Vertreterin Deutschlands an der Ausarbeitung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beteiligt.

Zusammengestellt von Susanne Bell

 

Rap der Projektgruppe „Nur mit uns!“ aus dem Jugendhaus Heideplatz


Das Video wurde im Rahmen der Podiumsdiskussion „Selbstvertretung damals und heute“ am 7. Mai im Historischen Museum Frankfurt gezeigt. Botschaft der Projektgruppe „Nur mit uns!“: Reduziert uns nicht auf unsere Behinderung, nehmt uns endlich ernst.